Der englische Begriff Storytelling hat sich im deutschen Sprachgebrauch etabliert, obwohl es eigentlich eine ganz treffende deutsche Beschreibung dafür gibt: Geschichten erzählen. Die wörtliche Übersetzung, kommt dem Sinn und Zweck von Märchen und religiösen Erzählungen recht nahe. Es geht darum, im Rahmen unterhaltsamer Erzählungen Wissen, Informationen oder Werbebotschaften zu vermitteln. Dementsprechend wird die Technik des manipulierenden Erzählens in der Wissensvermittlung eingesetzt, aber auch in PR und Marketing sowie in der Psychologie.
Inhalt
Welcher Sinn wird beim Storytelling verfolgt?
Die Geschichten, die verwendet werden, müssen nicht real sein. Sie können konstruiert sein, können auf wahren Begebenheiten beruhen oder komplett ausgedacht sein. Es ist nicht unüblich, ganz offensichtlich unwahrscheinliche oder überhöhte/überspitzte Erzählungen zu konstruieren. Abhängig vom Ziel der Geschichte können Logik und Wahrscheinlichkeit außer Acht gelassen werden. Wichtig ist der Unterhaltungswert der Geschichten. Denn dieser kann die wahren Absichten (Manipulation oder Wissensvermittlung) gut verschleiern.
Der Sinn der so konstruierten Geschichten ist, die vermittelten Informationen möglichst einfach und eingängig zu präsentieren. Mithilfe der Geschichten können die Informationen langfristig im Gedächtnis verankert werden.
Manipulation muss nicht negativ sein
Wenn es um Manipulation geht, befürchtet man meist das Schlimmste. Indoktrination, Gehirnwäsche und Erpressung sind nicht weit, zumindest semantisch. Dabei bedeutet das so negativ belegte Wort eigentlich nur “eine Handvoll”. Das lateinische manipulus wurde für eine Behandlung (auch hier das Wort “Hand”, manus) mit Kräutern verwendet. Der Begriff wandelte sich im Laufe der Zeit zum Negativen.
Storytelling ist Manipulation im positiven wie im negativen Sinn. In der Psychologie, bei Mitarbeiterschulungen und in der Kinder- wie Erwachsenenbildung ist das Erzählen von Geschichten eine ganz effektive Methode, um komplizierte Sachverhalte einfach verständlich zu erklären. In Werbung und PR dagegen geht es nicht um die Vereinfachung von Wissen, sondern darum, dass selbst banalste Informationen “hängenbleiben“. Die Texttechnik wird also sowohl für eigentlich positive als auch für eher negativ empfundene Zwecke genutzt.
Warum funktioniert das so gut?
Menschen reagieren auf Geschichten. Erzählungen, die einzelne Sachverhalte in einen Zusammenhang bringen, die Emotionen transportieren und mit Gefühlen spielen, fesseln. Die Manipulation der Gefühle findet also bereits durch die Geschichte selbst statt, nicht erst in der Instrumentalisierung von Geschichten.
Zum Aufbau einer unterhaltsamen Geschichte gehören ein Konflikt oder ein Problem, die Verschärfung desselben und schließlich die Auflösung. So waren Geschichten schon in der Griechischen Antike aufgebaut. Der klassische drei- oder fünfstufige Aufbau von Erzählungen wird bis heute genutzt.
Von Textaufgaben im Mathebuch von Gymnasiasten bis hin zu den allsommerlich in Serie erscheinenden Werbeclips mit Grill-Andi ist dieser Aufbau überall vorhanden, mal mehr und mal weniger offensichtlich.
Zu viele Informationen machen Wissensvermittlung schwer
Irgendjemand hat einmal herausgefunden, dass eine einzelne Tagesausgabe der FAZ bereits mehr Informationen enthält als das, was ein durchschnittlicher Mitteleuropäer noch vor 300 Jahren während seines gesamten Lebens lernte. Seitdem man diesen banalen Vergleich aufgestellt hat, muss er für alles Mögliche herhalten.
Wie auch immer die genannte Aussage zustande kommt, sie enthält einen Kern Wahrheit: Menschen sind heute sehr vielen und vor allem sehr komplexen Informationen ausgesetzt. Ob es um das einfache Kochen eines ausgewogenen Mittagessens geht oder um das berufliche Programmieren von Computern – überall sind Hintergrundinformationen und verknüpftes Wissen gefordert. Das muss alles erst einmal irgendwoher kommen.
Komplexe Sachverhalte lassen sich zwar separat memorieren, also im Gedächtnis verankern. Aber dann sind sie oft nicht anwendbar, sondern wie lateinische Vokabeln einfach als totes Wissen vorhanden. Menschen sollen ihr vorhandenes Wissen aber anwenden können. Daher müssen sie es mit bereits vorhandenen Fähigkeiten oder Informationen verknüpfen.
Und genau das leistet das Storytelling. In bekannte Erzählstrukturen verpackt und in einen einfachen Zusammenhang gesetzt, lässt sich Wissen einfach besser sinnvoll abspeichern. Und nicht nur das: Es ist durch die einmal konstruierten Verknüpfungen später auch einfacher wieder abrufbar.
Zeitmanagement ist schwierig
Die eine Sache ist die Komplexität der Informationen, eine andere die Menge. Informationen aller Art überfluten uns tagtäglich. Durch diese schiere Menge an Daten und Fakten ist es schwer, Prioritäten zu setzen und bewusst zu entscheiden, was man überhaupt aufnehmen und erinnern möchte. Es steht einfach zu wenig Zeit zur Verfügung, und die Informationsdichte ist enorm.
Das Einbinden in Geschichten hilft, die Flut ein wenig einzudämmen. Die Informationen erscheinen in einer Geschichte eingebettet sinnvoll miteinander verknüpft und aufeinander aufbauend. Gleichzeitig bindet die Geschichte die Aufmerksamkeit über einen gewissen Zeitraum, so dass in dieser Zeit keine anderen Informationen in Bewusstsein und Unterbewusstsein durchdringen. Storytelling emotionalisiert, bindet Aufmerksamkeit und verknüpft Informationen.
Wirkungsmechanismen sind bekannt
In der Psychologie verpackt man Konflikte in Geschichten, die den Patienten und Patientinnen im Rahmen der Therapie Heilung bringen sollen. Das wird insbesondere dann eingesetzt, wenn eine Gesprächstherapie oder andere Formen der Konfliktlösung ausgeschlossen sind, aus welchen Gründen auch immer. Die Patienten und Patientinnen können sich auf die Geschichte einlassen. Sie haben zwar eine gewisse Distanz zu den Protagonisten, können sich aber auch mit ihnen identifizieren. Die in der Geschichte aufgezeigte Lösung für die Konfliktsituation kann angenommen und auf das eigene Leben übertragen werden.
Die erwähnten Textaufgaben im Mathebuch verpacken mathematische Probleme komplexer Art in einfache Alltagsgeschichten. So lernen die Schüler und Schülerinnen, abstrakte mathematische Formeln auf anschauliche, konkrete Situationen anzuwenden. Sie sind später in der Lage, auch in komplexen Situationen die erlernten Werkzeuge (mathematische Formeln) abzurufen und anzuwenden.
Die Möglichkeiten reichen von der benötigten Waschmittelmenge je Waschmaschinenfüllung bis hin zum Aufstellen eines Businessplans und wirtschaftswissenschaftlichen Theorien. Das funktioniert in der Kinderbildung genauso wie in der Erwachsenenbildung, wird bei Sicherheitstrainings ebenso eingesetzt wie bei reinen “Wissenskursen“.
Anwendung in der Werbung
In der Werbung geht es darum, Menschen zu vermitteln, warum sie ein Produkt, das sie vermutlich gar nicht brauchen, unbedingt kaufen sollen. Wahlweise kann das ein tatsächliches Produkt, eine Dienstleistung, eine Fortbildung oder anderes sein.
Das Storytelling zeigt anhand von Menschen in einer problematischen Situation, dass genau das beworbene Produkt Erleichterung bringen oder den Konflikt ganz lösen kann. Dabei ist nicht wichtig, dass das Produkt in höchsten Tönen angepriesen wird, sondern nur, dass es in irgendeiner Art und Weise zur Lösung beiträgt.
Erwähnter Grill-Andi ist der typische Antiheld, der zum Fremdschämen einlädt. Trotzdem sind die Kurzvideos so unterhaltsam, dass die Rezipienten die Veröffentlichung des nächsten Videos mit Spannung erwarten: Die allsommerlichen Serien funktionieren wie eine Telenovela, das Produkt wird beiläufig platziert.
Eine gute Technik geschickt verpackt
Wer jetzt schließt, dass Geschichten immer als Text oder Video erzählt werden, liegt daneben. Storytelling kann auf ganz unterschiedliche Art und Weise angewandt werden.
Der Chef, der seiner Belegschaft seine Familiengeschichte als Beispiel eines erfolgreichen Unternehmensaufbaus und Loyalität erzählt, bedient sich dieser Technik. Die als Comic verfasste Bedienungsanleitung des japanischen Staubsaugers aber auch. Und wenn in einem neuen Animationsfilm eines einschlägig bekannten amerikanischen Trickfilmstudios die weibliche Hauptfigur schon wieder eine Wespentaille hat und nur durch heldenhafte Unterstützung eines männliches Protagonisten zu Glück und Zufriedenheit findet, dann ist das eben auch eine Form von erzählter Geschichte und wirkt manipulativ anstatt nur zu unterhalten.
Streng genommen kommt diese Technik sogar in jedem Popsong zum Einsatz. Da man Informationen nicht ausschließlich über die Augen oder ausschließlich über die Ohren aufnimmt, kann man Geschichten natürlich auch über andere Sinne erzählen.
Mehrkanaliges Lernen
In der Pädagogik versucht man beispielsweise, Wissen auch immer über die Motorik (Schreiben, Malen oder plastisches Formen) sowie über die Kinästhetik (Tastsinn) zu vermitteln. Das wird als mehrkanaliges Lernen bezeichnet. Wenn also in einer Werbekampagne – eingängige Melodien/Rhythmen
- mit einem geschickten (eventuell gesungenen oder skandierten) Slogan verbunden werden,
- das Ganze in einen kurzen Videoclip hochemotionalen Inhalts eingebunden ist und
- Werbeplakate auch nur einen Screenshot aus diesem Video aufgreifen,
dann ist das schon eine mehrkanalig angelegte und pädagogisch gesehen gut aufgebaute Kampagne und sollte von entsprechendem Erfolg gekrönt sein.
Geschichte gut erzählt?
Wer sich nach dem Lesen dieser doch etwas längeren Erklärung leicht manipuliert fühlt und den Experten in Marketing und PR etwas aufgeschlossener gegenübersteht, hat Recht: Auch hier wurde Storytelling genutzt. Um zu erklären, was diese Technik kann, woher sie kommt und wie die Methode eingesetzt wird. Letztendlich ist das Erzählen von Geschichten also kein “Kinderkram“, sondern auch für Erwachsene geeignet und durchaus wichtig.
Beispiel Anwendung: Storytelling in Produktbeschreibungen
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Julia Ullrich ist Teil des Redaktions-Teams von Text-Center.com. Sie schreibt außerdem für die Digital-Agentur Awantego.com .